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Dracula, Graf
... die Kurzgeschichte "Draculas Gast" von Bram Stoker
 
Markantes Zitat "Gräfin Dolingen von Gratz in der Steiermark - gesucht und tot aufgefunden, 1801" (Aufschrift auf einer Gruft nahe München)
Zur Kurzgeschichte von Bram Stoker Nahezu unbekannt ist in Deutschland die Kurzgeschichte "Draculas Gast" geblieben, welche erst nach Bram Stokers Tod in dem gleichnamigen Sammelband 1914 (u.a. auch mit dem Klassiker "Das Haus des Richters") veröffentlicht wurde. Dieser Text wurde von Stoker ursprünglich als erstes Kapitel seines Dracula-Romans verfaßt, jedoch vor der Erstveröffentlichung bereits gestrichen, da dem Verleger der Roman ohnehin schon als zu lang erschien. Obwohl die Ereignisse in dieser Episode für die weiteren Geschehnisse keine gewichtige Folgen haben und eher als Prolog zu der eigentlichen Handlung zu werten sind, ist diese Kurzgeschichte doch eine faszinierende Ergänzung.
Jonathan Harkers Journal beginnt hiernach bereits in München und statt der St. Georgsnacht vom 4. auf den 5. Mai, die wir in dem Roman als unheilschwangeren Beginn der Reise präsentiert bekommen, ist es tatsächlich die durch Goethes "Faust" auch in England bekannte Walpurgisnacht zum 1. Mai, die dem Grauen ihren ersten Stempel aufdrückt und vor der Jonathan von dem Hotelbesitzer Dellbrück gewarnt wird. Aber natürlich kann dies den Reisenden Harker von einer Kutschenfahrt nicht abhalten. In einem Wald bei München erzählt ihm der Kutscher Johann bei einer Kreuzung von dem einsamen Grab eines Selbstmörders (die damals nicht auf der geweihten Erde eines Friedhofes begraben werden durften); dabei ist erstmals das Heulen eines Wolfes zu hören. Von dieser Kreuzung führt zudem ein einsamer Weg zu einem unheiligen, verlassenen Dorf. Harker hört sich die wilden Gerüchte des Kutschers von lebendigen Toten, von nicht verwesenden Leichen mit blutigen Mündern, die sich um diesen Ort ranken, mit der stoischen Gelassenheit eines blasierten Briten an: "Geh nach Hause, Johann - Walpurgisnacht ficht einen Engländer nicht an!" und schickt den Mann mit seiner Kutsche zurück, um den Nachmittag leichten Herzens mit einen gemütlichen Waldspaziergang zu verbringen. Wenn er nur wüßte!
In der Abenddämmerung beginnt es langsam ungemütlich kalt zu werden und ein Schneesturm setzt ein. Auf der Suche nach einen Unterstand findet er unter dem fernen Geheul mehrerer Wölfe einen alten Friedhof, und darin die verlassene Gruft einer Gräfin Dolingen aus Graz in der Steiermark. Erstmalig wird er von Furcht vor der Walpurgisnacht gepackt. Ein Tornado setzt ein, und Harker versucht im Eingang der Gruft Unterschlupf zu finden, worauf sich die Tür öffnet und er statt mit einer verwesten Leiche mit einer schlafenden Schönen mit runden Backen und roten Lippen konfrontiert wird. In dem Augenblick donnert es, und Harker wird wie von unsichtbarer Hand aus der Gruft geschleudert, dann schlägt der Blitz ins Grab ein: die schlafende Tote wird höchst unsanft aus ihren Träumen gerissen. Sie erwacht in einem Flammenmeer, kurz sind ihre Schmerzesschreie hörbar, die jedoch von weiteren Donnerschlägen überdeckt werden. Harker hingegen wird weiter von einer unsichtbaren Kraft von diesem Ort des Grauens fortgezerrt; das letzte, was er erinnert, bevor er ohnmächtig wird, ist, daß aus den umliegenden Gräbern weiße schneebedeckte Gestalten aus ihren Gräbern zu steigen scheinen, die sich auf ihn zu bewegen ...
Als er wieder aufwacht, liegt ein großer Wolf auf seiner Brust und leckt ihm den Hals. Glücklicherweise rückt aber gleichzeitig unter lautem "Hallo, Hallo!" die Kavallerie heran, so daß der Wolf nach ein paar ausgedehnten stimmlichen Einlagen unverrichterer Dinge in Richtung der Gruft verschwindet. Mit ein paar Tropfen Brandy, den scheinbar auch das bayrische Militär zu schätzen weiß, wird Harker wieder fit gemacht. Die Soldaten erzählen ihm, daß der Wolf ihm das Leben gerettet hat, weil er ihn zunächst mit seinem Körper warm gehalten und außerdem mit seinem lauten Heulen die Reiter überhaupt erst einmal auf sich aufmerksam gemacht hat. Wieder zurück im Hotel "Quatre Saisons" (warum das ausgerechnet in Bayern einen französischen Namen haben soll?), erfährt er von Herrn Dellbrück, daß dieser den Suchtrupp losgeschickt hat. Auf die Frage, warum er dieses getan habe, zeigt ihn der Hotelbesitzer ein Telegramm aus Bistriz - von Dracula: "Passen Sie auf meinen Gast auf - seine Sicherheit liegt mir am Herzen. Sollte ihm irgend etwas zustoßen, oder sollte er vermißt werden, lassen Sie nichts unversucht, um ihn zu finden und seine Sicherheit wiederherzustellen. Er ist Engländer und deshalb Abenteuern zugeneigt. Schnee und Wölfe in der Nacht aber sind oft gefährich. Zögern Sie nicht, wenn Sie vermuten, daß ihm Leid zugefügt werden könnte. Ich werde ihre Bemühungen zu entgelten wissen."

In dieser Episode erweist Bram Stoker seinem irischen Landsmann Sheridan Le Fanu eine deutliche Referenz: In dessen Novelle "Carmilla" gibt es bei Graz nahe dem Schloß von General Spieldorf ebenfalls eine verlassene Stadt mit der Gruft der Familie von Karnstein, in welcher sich das Grab der Mircalla von Karnstein befindet. Dieses wird geöffnet und enthüllt die unverweste Untote, die mit der üblichen "Herz-pflock-und-Kopf-ab"-Methode entvampirisiert wird - diese Szene übernahm Stoker bekanntlich für den nächtlichen Ausflug auf dem Londoner Friedhof, bei dem van Helsing und Holmwood (Harker in den Jagd/Geschichte-Hörspielen) die konvertierte Vampirin Lucy Westenraa erlösen.
Des weiteren zeigt die "Gast"-Kurzgeschichte einmal mehr die Nähe der Werwolf-Legende zum Vampir-Mythos. Als Vorbild darf in dieser Hinsicht wohl eine Werwolf-Erzählung von Frederick Marryat gelten, die sich in dem Buch "Das Phantom-Schiff" (1839), einem Roman über den fliegenden Holländer, findet, aber in zahlreichen Horror-Kurzgeschichten-Sammelbänden auch separat erschienen ist. Die Handlung dort findet auf dem durch die Walpurgisnacht bekannten Brocken im Harz statt. (Die Engländer des 19. Jahrhunders schätzten offenbar Deutschland als Setting für ihre Schauergeschichten: Stokers Kurzgeschichte "Die Squaw" z.B. spielt in der Folterkammer der Burg von Nürnberg.) Ob der Riesenwolf in Stokers Erzählung ein verwandelter Vampir, ein Werwolf oder nur ein dienstbarer Nur-Wolf, möglicherweise von Dracula selber geschickt, ist, wird aber nicht verraten. Falls im Romanmanuskript noch Anknüpfungspunkte an diese Episode bestanden, so wurden sie getilgt, so daß auch über eine mögliche Verbindung der Gräfin Dolingen zu Dracula nichts bekannt ist.
Die Filmindustrie hat sich bei ihrer stetigen Suche nach Stoff für Dracula-Fortsetzungen dieser Geschichte ebenfalls angenommen, so soll jedenfalls "Dracula's Daughter", die Fortsetzung des Lugosi-Dracula-Films, auf "Draculas Gast" basieren, was in einschlägigen Filmbüchern jedoch bestritten wird - der Hinweis darauf erfolge allenfalls, um dem Film mit dem Namen Stokers eine Scheinauthenzität zu verleihen. Wie dem auch sein mag: die Interpretation, Gräfin Dolingen wäre mit Dracula verwandt, wobei die Tochterhypothese zweifellos die attraktivste ist, wurde zum Ausgangspunkt zu den zahlreichen "Gräfin Dracula"- & "Draculas Tochter"-Epigonen, wozu natürlich auch die 8. Folge der Gruselserie gehört.

Hier noch zwei Anmerkungen zum Schluß:
1. "Draculas Gast" ist auch in deutscher Übersetzung erhältlich (ich selbst habe die Geschichte im englischen Orginal gelesen, das Dracula-Telegram-Zitat ist deshalb eigenübersetzt - wie ich hoffe, einigermaßen korrekt).
2. In Ergänzung zur WDR-Hörspielfassung von "Dracula" gibt es auch eine englische BBC-Version, die auf der gleichen Bearbeitung von Nick McCarthy beruht und leicht übers Internet bestellt werden kann (ich habe sie aus einer Buchhandlung, welche BBC-Cassetten im ganz normalen Sortiment führt, aber das dürfte wohl eher eine Ausnahme sein). Diese Aufnahme ist dabei noch eine halbe Stunde länger, leider ebenfalls ohne den "Münchener Prolog", dafür aber billiger zu haben als die relativ teure deutsche Hörverlag-Ausgabe. (ts)

 
 
 

 

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© Die Gruselseiten (26. Juli 2002)